Musiktheorie, Gehörbildung und musikalische Analyse – Lernziele des Gehörbildungsprogramms ORLANDO

Ein wichtiger Teil der Ausbildung in der Musiktheorie hat zum Ziel, die höranalytischen Kompetenzen und Wahrnehmungsmuster der Studierenden zu unterstützen. Insbesondere für das Thema „Neue Musik“, das sich durch neuartige musikalische Strömungen nicht mehr mit klassischen Methoden erfassen lässt, müssen neue didaktische Herangehensweisen und Aufgaben entwickelt werden. Hierfür möchte unser Digital Fellow Prof. Dr. John Leigh von der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden eine digitale Unterstützung für Selbstlern- und Übungsphasen anbieten, die über die Möglichkeiten des Präsenzangebotes hinausgehen. Die neu entwickelte Lernsequenz wird nach Fertigstellung in das multimediale Gehörbildungsprogramm Orlando integriert, welches er mit seinem Team seit 2004 entwickelt. Im Interview erklärt er, warum Gehörbildung im Musikstudium so wichtig ist und wie digitale Angebote dies unterstützen können.

Das Programm Orlando steht auf folgender Seite zum Ausprobieren zur Verfügung unter: https://www.hfmdd.de/Orlando/index.html

Welche neuen didaktischen Herangehensweisen haben Sie in Ihr Angebot integriert? Was ist neu daran?

Prof. Leigh: Orlando betrat in der Zeit seiner Entstehung ziemliches Neuland. Es gab zwar schon lange digitale Gehörbildungsangebote, aber diese beschränkten sich auf das Pauken von elementaren und von der Musik abstrahierten Phänomene wie Intervalle, einfache Akkorde und Rhythmen. Was an Orlando absolut neu war, war, dass Orlando in einem interaktiven digitalen Lernszenario von Musik aus unterschiedlichen Epochen, Stilen und Gattungen ausgegangen ist und die Aufgaben anhand dieser jeweiligen Lerngegenstände konzipiert worden sind. So hat man sich den einzelnen Musikstücken in ihrer Ganzheit höranalytisch angenähert, wodurch die einzelnen musikalischen Phänomene zu einem Gesamtbild beitragen. Auch völlig neu war damals die Möglichkeit einer hybriden Lehrform. Orlando kann im Präsenzunterricht genutzt werden, um neue Lernsequenzen einzuführen. Zur Vertiefung kann er von den Studierenden in Selbstlernphasen weiter gebraucht werden, da die Aufgaben interaktiv so aufgebaut sind, dass sie eine Unterrichtssituation simulieren.

Wie findet der Unterricht in der Gehörbildung bisher statt?

Prof. Leigh: Das ist ein wenig schwierig in Kurzform zu beantworten, weil es viele unterschiedliche Ansätze in der Gehörbildung gibt. Diese werden auch kontinuierlich bei Kongressen und Arbeitsgruppen diskutiert und ausgewertet. Tendenziell gibt es aber seit Jahren die Bestrebung, die Gehörbildungslehre zu reformieren – weg vom abstrahierten „Training“ hin zur Ausbildung höranalytischer Fähigkeiten anhand existierender Musik. In diesem Sinn ist Orlando auch immer an vorderster Front und, wie ich meine, übte auch einen großen Einfluss in den letzten Jahren auf die Entwicklung hin zu einem ganzheitlichen Verständnis von Hörvorgängen aus.

Was sind die besonderen Herausforderungen bei der Entwicklung von höranalytischen Kompetenzen, insbesondere in Bezug auf das Thema „Neue Musik“?

Prof. Leigh: Die „Neue Musik“ stellt mehrfache Herausforderungen in Bezug auf die Entwicklung höranalytischer Kompetenzen. Zunächst ist überhaupt der Begriff der „Neuen Musik“ problematisch, denn gemeint sind Entwicklungen und Strömungen, die etwa um 1900 beginnen. Wenn man diesen Zeitraum mit der Entwicklung der Autoindustrie vergleichen würde, hätten wir es gegenwärtig bei den Anfängen der „Neuen Musik“ mit Oldtimern zu tun. Dies bereitet für Studierende (und auch insgesamt für Hörende) der „Neuen Musik“ eine zweifache Herausforderung, denn die Frühphase der „Neuen Musik“ kann zugleich „alt“ und aber gleichzeitig, wegen der damals neuen Kompositionstechniken und eines hohen Dissonanzgrades, neuartig und fremd vorkommen. Wie im restlichen Programm von Orlando spielt hier also der Umgang mit der Geschichte eine große Rolle. Die „Neue Musik“ wird in ihre historische Perspektive gestellt und als Spezifikum einer epochalen Entwicklung behandelt. Hier gibt es auch glücklicherweise wunderbare Beispiele, bei denen sich das Kontinuierliche der musikalischen Tradition und das Streben nach Neuem vermischen und so eine Brücke zwischen Bekanntem und Unbekanntem bilden. In der neuen Lernsequenz von Orlando wird zuerst auf das Bekannte aufgebaut, um in ihrer Fortsetzung zunehmend Unbekanntes zu entdecken.

Welche Potenziale ergeben sich für die Gehörbildung aus der Nutzung digitaler Medien? Wo sehen Sie die Vorteile für die Studierenden?

Prof. Leigh: Die Nutzung digitaler Medien hat ein riesiges Potenzial für die Entwicklung von Hörfähigkeiten. In der Vergangenheit haben wir uns als Studierende mühsam verabreden müssen, Aufgaben selbst ausdenken und in umständlicher Form versucht gegenseitig Lehrerin und Schüler zu spielen. Mit der Einführung von digitalen Medien in der Gehörbildung eröffnen sich eine Fülle an Lernsettings und Materialien. Das Lernsetting ist vielleicht der allergrößte Gewinn aus der Digitalisierung der Gehörbildung, denn der Präsenzunterricht kann in vielen Fällen für die Entfaltung der Fähigkeiten hemmend sein. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Fähigkeiten in dieser Disziplin und der Angst der Studierenden, sich bei falschen Antworten zu blamieren. Diese Stresssituation kann im Extremfall dazu führen, dass die hörende Erfahrung kognitiv mit Stress gekoppelt wird. Die digitale Nutzung von Gehörbildungslehrwerken erlaubt es den Studierenden, in einer selbst gewählten Umgebung, zu den Zeiten, in denen sie fit sind und im eigenen Tempo zu arbeiten. Auch die Möglichkeit, mitzusingen, mitzuklopfen, am Instrument nachzuspielen sind – anders als im Präsenzunterricht – hier unbegrenzt und können damit zu größeren Lernerfolgen und Fortschritten beitragen. Ein anderer großer Vorteil, den die digitalisierte Gehörbildung bietet, ist die Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien. Hier ist Orlando besonders aktiv, denn mit Abschluss der Lernsequenz „Neue Musik“ wird Orlando etwa 120 höranalytische Aufgaben in einem historischen Zeitraum von 1250 Jahren (von der Gregorianik bis hin zur „Neuen Musik“) zur Verfügung stellen. In einem dreijährigen Gehörbildungsstudium sind das mehr als eine Aufgabe pro Woche, die man zuhause in Selbstlernphasen machen kann. Und es werden immer mehr, denn in der Breite, wie in der Chronologie kann Orlando immer weitere Lernsequenzen entwickeln.

Wie nehmen die Studierenden Ihr Angebot an? Welches Feedback erhalten Sie zu Ihrem Angebot?

Prof. Leigh: Das Gesamtprogramm Orlando ist in der Studienordnung der Dresdner Musikhochschule fest verankert, und wird deshalb von allen Studierenden in den Bachelorstudiengängen genutzt. Es gibt dabei ein ständiges unbürokratisches Feedback, welches meistens durch die Dozierenden weitergeleitet wird, um das Programm zu verbessern. Vor allem im Bereich der technischen Umsetzung wurden einige Elemente geändert, um das Programm bedienerfreundlicher zu gestalten.
Die neue Lernsequenz „Neue Musik“ wurde auch im kleinen Rahmen bereits getestet. Die nachfolgenden Zitate sind Rückmeldungen aus diesem Kreis:
„Die Reihe ‚Neue Musik‘ ist zwar die schwerste aus dem bisherigen Orlando Programm, stellt die Inhalte trotzdem für Studierende unterschiedlichen Kenntnisstandes anschaulich dar. Auch weil die Reihe didaktisch Anfangs auf bereits Gekanntes zurückgreift, sorgt sie damit für einen anfänglichen Zugang und ermöglicht so den Studierenden der höheren Semester den Einstieg in die eventuell noch ungewohnte ‚Neue Musik‘.“
„Die Lernsequenz ist spielerisch aufgebaut und bietet damit eine Insel, auf der man mit Leichtigkeit komplizierte Sachverhalte verinnerlichen kann“. Weiteres Feedback erwarten wir nach der vollständigen Digitalisierung und der Veröffentlichung der Lernsequenz.

Inwiefern lässt sich Ihr Vorgehen auch auf andere Hochschulen oder Fachbereiche übertragen?

Prof. Leigh: Orlando ist als multimediales interaktives Lernangebot bereits im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt und da das Programm nun auf einer neuen Plattform kostenfrei und ohne Anmeldung verfügbar ist, wird es von vielen Dozierenden und Studierenden an deutschsprachigen Hochschulen benutzt. Auch am – der Hochschule für Musik Dresden angegliederten Sächsischen Landesgymnasium für Musik – wird Orlando von den Lehrenden und Schüler:innen genutzt und beeinflusst somit auch dort die Lehrpläne. Da wir im ständigen Kontakt mit anderen Institutionen sind (vor allem mit der Gesellschaft für Musiktheorie und ihren Arbeitsgruppen Neue Medien und Gehörbildung), beeinflusst Orlando die neuesten Entwicklungen in diesem Diskurs. Umgekehrt fließen auch die neuesten Erkenntnisse von Möglichkeiten der digitalen Lehre und aber auch didaktische Möglichkeiten in der Gehörbildung in die Bestrebungen des Orlando-Teams ein. In der Vergangenheit war Orlando Gegenstand von positiv ausfallenden Rezensionen und Würdigungen (auch in Wikipedia unter dem Suchbegriff Gehörbildung wird das Programm lobend erwähnt). Wir sind gespannt, wie die neue Lernsequenz „Neue Musik“ bei den Kolleginnen und Kollegen der Musiktheorie aufgenommen wird.